Zurück zur Startseite

Die Gemeinschaft, die wir meinen

Gemeinschaften beruhen auf einem starken Gefühl der Verbundenheit zwischen Menschen. Dieses Gefühl entsteht, wenn wir immer wieder für die gemeinsame Sache in der Gruppe und vor Ort aktiv sind. Zur gemeinsamen Sache - dem Gemeinen - kann jede*r und jede*r auf unterschiedliche Weise beitragen, ob durch Mitwirkung am nächsten Dorffest, einen Spieleabend, die Gründung eines Vereins, den Einkauf für die ältere Nachbarin oder eine Aufräumaktion im Ort. Alle die mitwirken, werden Teil dieser Gemeinschaft - ganz gleich, wo sie "ursprünglich" herkommen, welches ihre Muttersprache ist oder wie lang sie schon hier leben. Eine solche Gemeinschaft grenzt nicht aus und ist offen für neue Engagierte. Sie erfordert aber auch Mitwirkung. Niemand ist von Geburt an Teil der Gemeinschaft und keine*r ist es durch eine einmalige Aktion. Für eine dauerhafte Gemeinschaft braucht es immer wieder Beteiligungen an Vorhaben, die das Miteinander stärken können. Gemeinschaft benötigt permanente Pflege, sonst verkümmert sie. Gemeinschaftsstärkende Aktionen können in jedem Ort unterschiedlich sein. Sie gewinnen ihren Charakter durch die Menschen, die sich einbringen. Durch neue Beteiligte wandelt und belebt sich Gemeinschaft. Manchmal braucht sie gerade diese neuen Impulse, um überhaupt fortbestehen zu können. Die Ideen der Neuen, ihr frischer Enthusiasmus, haucht eingeschlafenen Gemeinschaften neues Leben ein und verändert gleichzeitig die gemeinsame Sache, die die Menschen verbindet.

 

Was künstlerische ›Dorfresidenzen‹ mit politischer Bildung zu tun haben

Interview des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement mit David Adler

Interview von Theresa Spreckelsen, Leitende Referentin Onlineredaktion, und Anna Wegenschimmel, Referentin »Engagierte Stadt / Engagiertes Land« vom Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement mit David Adler vom Dezember 2023

https://www.b-b-e.de/bbe-newsletter/newsletter-nr-24-vom-14122023/interview-mit-david-adler/

***

BBE-Newsletter: Lieber David Adler, vielen Dank, dass wir uns heute treffen und über eure Arbeit im Kulturlandbüro sprechen können. Hauptsächlich gefördert vom Bundesprogramm TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel habt ihr euren Sitz auf Schloss Bröllin, einem Produktionszentrum für darstellende Künste an der deutsch-polnischen Grenze in Mecklenburg-Vorpommern (MV). Inwiefern trägt nach eurem Verständnis das Kulturlandbüro zur Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement im ländlichen Raum bei?

David Adler: Meine fünf Kolleginnen und ich haben seit der Gründung des Kulturlandbüros im Jahr 2020 eine Netzwerk-, Beratungs- und Kommunikationsstelle für Kultur im ländlichen Raum eingerichtet. Wobei wir unsere Netzwerkarbeit ganz wesentlich mittels partizipativer Kunstformate umsetzen und anstoßen. Kultur im ländlichen Raum wird überwiegend durch Ehrenamtler*innen umgesetzt. Von 48 Gemeinden in unserer Projektregion in MV werden 43 ehrenamtlich geleitet. Das heißt, das ehrenamtliche Engagement fängt beim Bürgermeister oder der Bürgermeisterin an und zieht sich weiter in die Vereine. Insofern arbeiten wir fast ausschließlich mit ehrenamtlich Engagierten zusammen, sprechen aber alle an, die mit Kultur zu tun haben. Dies zieht auch einen erweiterten Kulturbegriff nach sich.

BBE-Newsletter: Wie würdest du dann den Kulturbegriff in »Kultur«-landbüro definieren?

David Adler: Ich würde Kultur immer im weiteren Sinne definieren. Wir unterstützen das Zusammenleben vor Ort, indem wir Kunstprojekte initiieren, begleiten und fördern. Und wenn im Dorf das Zusammenleben wesentlich durch die Arbeit der Jugendfeuerwehr geprägt ist, ist das eine Kultur, die wir unterstützen. Im Vordergrund steht, unbedingt eine inkludierende und keine exkludierende Gemeinschaft zu schaffen und das hat sehr viel mit Kultur zu tun: Wie redet man und wo redet man (Stichwort »Dritte Orte«) und für welche Aktivitäten treffen sich die Menschen? Das ist ganz eng verbunden mit Kultur. »Gemeinschaft stärken durch Kultur« ist unser Slogan.

BBE-Newsletter: Wie kann man sich eure Arbeit konkret vorstellen, wie startet ihr die Zusammenarbeit mit einer Gemeinde?

David Adler: Wir beginnen mit Eins-zu-eins-Gesprächen mit den Bürgermeister*innen, gehen also proaktiv zu den Menschen vor Ort. Zweitens: Wir hören zu. Und drittens: ohne Forderungen zu stellen. Wir sind komplett offen, um die ersten Potenziale und Herausforderungen der Gemeinden zu erfahren und die Wünsche zu hören. Mittlerweile – nach Abschluss einiger partizipativer Formate – sind viele neue Netzwerke entstanden oder vorhandene wiederbelebt worden. Wir haben immer noch sehr viel mit den Gemeinden zu tun, allerdings längst nicht mehr nur mit dem Bürgermeister oder der Bürgermeisterin. Unsere Ansprechpartner*innen sind viele aktive Kreative, die ihre Ideen und Vorhaben mit uns besprechen.

BBE-Newsletter: Ein wichtiger Baustein eurer Arbeit ist die Vernetzung dieser »aktiven Kreativen«. Wie geht ihr hier vor?

David Adler: Genau. Konkret sammeln wir alle Wünsche und Angebote und bilden sie im Sinne eines schwarzen Brettes ab – immer stärker auch mittels digitaler Tools. Über einen Newsletter verbreiten wir unsere partizipativen Formate und die daraus entstehenden Veranstaltungen. Zusätzlich bilden wir das, was es vor Ort gibt, in unserer Kulturlandschatzkarte ab. Das ist ja die Basis, um sich vernetzen zu können: zu wissen, was und wen es wo gibt. Oft ist das schon ein Dorf weiter nicht bekannt.

BBE-Newsletter: Was sind neben der Vernetzung der Kreativen und den partizipativen Projekten – über die wir gleich noch genauer sprechen – weitere Serviceleistungen des Kulturlandbüros?

David Adler: Daneben gibt es die mobilen Beratungen, hier helfen wir ganz konkret und individuell bei der Projektentwicklung: Wir gehen hin, hören zu, geben Tipps zu Förderprogrammen und helfen auch bei der Antragstellung. Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist die Beratung zu Vereinsgründungen, wofür wir eng auch mit der Ehrenamtsstiftung MV zusammenarbeiten. Unser Alltag ist also zusammengefasst: sammeln, vernetzen, abbilden, beraten und natürlich die partizipativen Projekte umsetzen.

BBE-Newsletter: Ihr seid alle keine Ortsansässigen – hattet ihr Probleme, in der Region angenommen zu werden? Seid ihr oft dem Vorwurf ausgesetzt, den Menschen vor Ort euren (Berliner) Kunstbegriff aufzuzwingen?

David Adler: Nein. Da kann ich ganz klar sagen: Es ist egal, wo wir herkommen. Es geht nur um die passende Haltung, das heißt: das offene, ehrlich-interessierte Zuhören. Wenn ich in ein Dorf komme, wertschätzend bin, zuhöre und die Menschen ernst nehme, dann kann ich aussehen und herkommen, wie bzw. woher ich will. Völlig egal. Die Menschen, die da nicht akzeptiert werden, akzeptieren die Menschen vor Ort nicht.

BBE-Newsletter: Dann nun endlich zu den partizipativen Projekten, genauer zu eurem Format der sogenannten »Dorfresidenzen«. Könntest du erklären, was das ist?

David Adler: Im Vordergrund steht der aktive Austausch mit den Menschen vor Ort – der Künstler oder die Künstlerin setzt Kunstprojekte gemeinsam mit den Bürger*innen um. Das ist der Unterschied zu klassischen Künstler*innenresidenzen, wo Künstler*innen einfach an einem Ort wohnen, um dort ihre Kunst zu machen.

BBE-Newsletter: Und wie werden die Künstler*innen ausgewählt? Partizipative Kunst ist – besonders im ländlichen Raum – sehr anspruchsvoll und liegt auch nicht jedem.

David Adler: Es gibt einen Open Call für Künstler*innen, wobei bis zu 180 Bewerbungen pro Jahr eingehen. Aus diesem Pool wählt eine Jury geeignete Künstler*innen aus den Sparten Literatur, Film, Tanz, Performance, Bildende Kunst etc. aus, wobei neben der künstlerischen Qualität auch die Offenheit für partizipative Formate im Vordergrund steht: Spürt man, dass die Künstler*innen Lust darauf haben, mit den Menschen in Kontakt zu treten? Und sind sie dazu auch in der Lage? Unser Jury-Mitglied Julia Novacek hat das mal sehr schön auf den Punkt gebracht: »Wir suchen Leute, die sich mit einem tollen Projekt vorstellen, aber bereit sind, am ersten Tag das Projekt über Bord zu werfen und ganz neu anzufangen, wenn sie spüren, der Ort braucht jetzt was anderes.« Parallel bewerben sich Gemeinden für eine Dorfresidenz, wobei die Jury darauf achtet, dass eine möglichst diverse Gruppe dahintersteht. In einem dritten Juryentscheid kommt die Vorauswahl der Künstler*innen zu den ausgewählten Gemeinden, woraufhin die Gemeinden letztendlich selbst auswählen, wer zu ihnen ins Dorf kommt. Das können Einzelkünstler*innen oder Gruppen sein.

BBE-Newsletter: Warum ist es euch so wichtig, dass die Gemeinde selbst entscheidet, mit wem sie ein Projekt umsetzen wollen?

David Adler: Weil hier von Anfang an eine Aushandlung stattfindet, bei der eine Alternative zu den demokratisch gewählten Gremien aufgemacht wird. Vor der Entscheidung ist ja bereits ein halbes Jahr lang Reflexion passiert – auf Wunsch gehen wir zum Beispiel auch in Gemeindeversammlungen und stellen das Format noch einmal vor. Diesen Jury-Prozess durchzuführen, ist ganz entscheidend in unseren Augen, weil eine Dynamik entsteht, sich möglichst viel schon im Vorfeld mit Kunst auseinandersetzen und auch eine Diskussion über die Legitimität solcher Entscheidungen entsteht. Deswegen ist es wichtig, dass der*die Bürgermeister*in auch mit dabei ist und, dass diese Projekte intensiv von uns begleitet und moderiert werden.

BBE-Newsletter: Und wenn das Matching abgeschlossen ist zwischen Gemeinde und Künstler*in …?

David Adler: … dann leben die Kunstschaffenden vier bis sechs Monate in der Gemeinde, wobei sie ein Budget, ein monatliches Honorar aus unseren Projektmitteln für den Aufenthalt sowie im besten Fall eine Wohnung von der Gemeinde gestellt bekommen.

BBE-Newsletter: Wie reibungsvoll oder reibungslos läuft die Partizipation dann ab?

David Adler: Dadurch, dass die Menschen selbst entscheiden, wer an ihren Ort kommt, ist Partizipation grundsätzlich bereits gewährleistet. Alle wissen davor, dass sie auch selbst aktiv mitwirken müssen. Probleme entstehen trotzdem in diesen Prozessen. Bei diesen Projekten tritt sehr viel zutage. Unsere Erfahrung hat uns gezeigt: Es sind immer die gleichen Phasen. Nach zwei Monaten ist absolute Depression – Leute springen ab, die Künstler*innen finden uns scheiße, der Bürgermeister findet uns scheiße und es gibt richtig Ärger. Das ist aber auch eine Stärke dieser Projekte: Wer sich so über Kunst streitet, der nimmt sie total ernst. Und warum wird sie ernst genommen? Weil diese Kunst als Gefäß für die Belange der Menschen, die sie in ihrem Alltag haben, dient. Kunst hat hier wirklich eine Katalysator-Funktion und bringt ganz viele Themen auf den Tisch! Auf der anderen Seite ist das auch extrem anstrengend und dynamisch und diese Konflikte sind manchmal schwer auszuhalten. Da braucht es sehr viel Moderation unsererseits. Wir standen auch schon kurz davor, Projekte abzubrechen, es kam dann aber nie dazu.

BBE-Newsletter: Klingt nach vielen Verhandlungen, bei denen auch mit persönlichen Befindlichkeiten umgegangen werden muss. Worin liegt hier der Mehrwert?

David Adler: Es ist ein sehr schwieriger Prozess und die Partizipation ist wirklich nur qualitativ erfassbar. Es steht nicht im Zentrum, wie viele Menschen beim ersten Treffen dabei waren. Wenn sich am Ende zwei bis drei Menschen eingebracht haben, die vorher nie aktiv waren, weil sie sich nicht getraut haben, wenn diese Menschen durch so ein Projekt gewonnen wurden, sich auch im Nachhinein intensiv im Dorf zu engagieren, Leute zusammenzubringen, Aktionen auf die Beine zu stellen, dann ist uns das wesentlich mehr wert als 5.000 Leute, die zur Abschlussveranstaltung kommen. Wenn über die Dorfresidenz hinaus Gemeinschaft belebt wird, dann ist das ein ganz großer Effekt.

BBE-Newsletter: Hast du Beispiele von Projekten, die nachhaltig gewirkt haben? Was bleibt denn, wenn die Dorfresidenz zu Ende ist und die Künstlerin oder der Künstler wieder »auszieht«?

David Adler: Alle unsere Residenzen haben Wirkungen erzeugt. Der Schwung und die Dynamik der abschließenden Kunstprojekte will eigentlich immer bewahrt werden, da steckt ja auch ganz viel Herzblut dahinter. Es kann sich direkt im Anschluss oder auch erst ein Dreivierteljahr später etwas ergeben. Ein Beispiel ist die Gemeinde Nieden, unsere erste Residenz, aus der heraus eine Initiative für einen Dorfkulturverein entstand, dessen Gründung wir begleitet haben. Der Verein ist die Basis für das zukünftige Gemeinschaftsleben geworden. In Pasewalk hat die Künstlerin barbara caveng während ihrer Residenz einen Leerstand belebt und dadurch sind Aktive auf die Idee gekommen: »Hey, das machen wir jetzt selber« und haben das nach Abschluss der Residenz selbst in die Hand genommen. Oder im Rahmen eines anderen Formates – der Kulturlandschau – ist ein Projekt entstanden, in dem Jugendliche ältere Menschen für einen eigenen Film interviewt haben. Da kam es zu einem ganz neuen Erfahrungsaustausch, der darin gipfelte, dass die Jugendlichen über ein Jahr lang der Gemeindevertretung auf den Geist gegangen sind und nun wirklich einen Jugendclub gegründet haben.

BBE-Newsletter: In all diesen Beispielen spielt der Aspekt der Mitgestaltung und Selbstwirksamkeit auch eine große Rolle.

David Adler: Genau. Und auch viel politische Bildung. Die Frage zu verhandeln: Was kann ich in meinem Ort bewirken? Und da waren die konkreten Auswirkungen jetzt in unseren Fällen Vereinsgründungen, Leerstandsbelebung, Jugendclub-Gründungen, aber auch Erzählcafés in einem Projekt von Sabrina Dittus.

BBE-Newsletter: Warum ist hier ausgerechnet die Kunst eurer Meinung nach das richtige Mittel zum Zweck?

David Adler: Ich mach es mal ganz kurz und dicht: Kunst ist ein unverfängliches Thema. Da ist nicht so viel Schwere drin wie zum Beispiel bei »Die Feuerwehr braucht neue Uniformen, die Straße muss gebaut werden«. Auch wenn es prinzipiell nicht gut ist, dass Kunst auf kommunaler Ebene eine freiwillige Leistung ist, birgt es in dieser Hinsicht auch eine Stärke, weil es irgendwie leicht ist. Oder umgekehrt: Mit Reden allein gewinnt man die Leute nicht. So richtig in Kontakt kommt man immer erst, wenn man etwas gemeinsam tut. Das ist gemeinschaftsstiftend. Dazu kommt, dass die Künstler*innen niemals nach Defiziten fragen, sondern immer nach Potenzialen und Möglichkeiten. So eine positive Grundstimmung über sechs Monate hinweg in einem Dorf zu haben, löst ganz viel aus. Diese Projekte bringen (quasi durch den Umweg über die Kunst) massiv viel in Bewegung.

BBE-Newsletter: Glaubst du, dass das Konzept des Kulturlandbüros auch auf andere Bundesländer übertragbar wäre? Weißt du von anderen Ländern, die ähnliche Konzepte haben? Oder ist das spezifisch für Mecklenburg-Vorpommern?

David Adler: Auch wenn die regionalen Besonderheiten projektseitig unbedingt in den Blick genommen werden müssen, gibt es große Ähnlichkeiten der ländlichen Räume. Einer der Bürgermeister bei uns stammt ursprünglich aus Friesland und hat uns gesagt, dass die Bedingungen dort ganz ähnlich sind. Warum soll da ein Kulturlandbüro nicht auch viel bewirken können? Am Kulturlandbüro ist besonders, dass wir Netzwerkarbeit mit partizipativen Kunstprojekten verbinden. Das gibt es meines Wissens in Deutschland sonst nicht.

BBE-Newsletter: Zum Abschluss: Was wären drei Wünsche an die Landkreisebene, das Land Mecklenburg-Vorpommern und den Bund bezüglich Kultur im ländlichen Raum?

David Adler: Der erste Wunsch ist, dass jeder Landkreis oder jede Region so eine Netzwerkstelle finanziert. Diese sollte meiner Meinung nach über die Landkreise finanziert werden, aber nicht direkt dort angesiedelt sein, um eine größere Flexibilität und Mobilität zu ermöglichen. Und um Vertrauen bei bestimmten Menschen zu generieren, die vielleicht mit der Verwaltung Probleme haben. Also eine Stelle komplementär zur Verwaltung. Der zweite Wunsch ist, dass flächendeckend anerkannt wird, dass Kulturarbeit und politische Bildungsarbeit essentiell zusammenhängen. Gerade in ländlichen Räumen ist Geld, das in partizipative Kulturprojekte angelegt wird, oft besser investiert als für politische Bildung. Weil man über Kunstprojekte auch Menschen gewinnen kann, die man mit Angeboten der klassischen politischen Bildung nicht erreicht. Und der dritte Wunsch ist: Partizipative Kulturprojekte bedürfen sehr flexibler Förderbedingungen, die einen Fokus auf Prozesse legen. Es braucht prozessorientierte Förder-Tools, die eine große Flexibilität ermöglichen und die prinzipiell auch das Scheitern zulassen. Wenn man Projekte nicht ergebnisoffen hält, dann können sie auch nicht partizipativ sein.

BBE-Newsletter: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und alles Gute auch für die eigene Verstetigung, die nach Ende eurer Förderung ansteht.David Adler: Vielen Dank! Wir sind dran, unser Landkreis steht hier glücklicherweise hinter uns.


Endnoten

[1] www.kulturlandbuero.de/kulturlandschatzkarte/

[2] www.ehrenamtsstiftung-mv.de

Kunst als Katalysator für Regionalentwicklung

Im Gespräch mit David Adler, Leiter Kulturlandbüro, Fahrenwalde

Interview der Bundesvereinigung für Kinder- und Jugendbildung mit David Adler vom 10. Januar 2023

https://www.bkj.de/ganztagsbildung/bildungslandschaften-und-kultur/wissensbasis/beitrag/kunst-als-katalysator-fuer-regionalentwicklung/ 

***

Nicht nur im Landkreis Uecker-Randow sind es die Einwohner*innen selbst, die die Region prägen. Das Kulturlandbüro agiert hierbei als Verstärker und hebt die vorhandenen Potenziale hervor. Kunst ist der Katalysator für die Entfaltung neuer Ideen und Initiativen.

Was für eine Region ist Uecker-Randow?

Uecker-Randow ist der südlichste Teil von Vorpommern-Greifswald, dem drittgrößten Landkreis Deutschlands. Die Region ist sehr ländlich geprägt. Es gibt drei Städte mit knapp 10 000 Einwohner*innen, ansonsten sehr viele kleine Dörfer mit 300 bis 500 Einwohner*innen. Fast nirgendwo gibt es dritte Orte wie Gaststätten oder Dorfläden. Außerhalb der Zentren gibt es nur wenige Schulen. Sanfter Tourismus findet nur am Stettiner Haff statt.

Eine Besonderheit hat die Region: Anders als in anderen westeuropäischen Ländern, die an der Grenze zu Osteuropa liegen, haben wir eine umgekehrte Grenzpendlerei, das heißt, die Pol*innen wohnen auf der deutschen Seite, der Arbeits- und Lebensmittelpunkt bleibt aber in der Metropolregion Stettin. Je näher man an die Grenze kommt, desto höher ist der Anteil der polnischen Bewohner*innen, teilweise bis zu 50 Prozent. Dies stellt die Region vor zusätzliche Integrationsaufgaben. Die Kinder gehen aber überwiegend in Deutschland in die Kita und in die Schule, um die Sprache zu lernen.

Wie ist das Kulturlandbüro entstanden, welche Ziele standen dahinter und welche strukturellen Besonderheiten gibt es?

Das Projekt ist im Rahmen von „TRAFO – Modelle von Kultur im Wandel“ entstanden. Träger und Antragsteller ist der Schloss Bröllin e. V., der auch – zusammen mit dem Landkreis – dieses Projekt in der Region umsetzt. Eine Motivation von Schloss Bröllin war es, als mittlerweile 30 Jahre alter Produktionsort für darstellende Künstler*innen und Kulturschaffende aus der ganzen Welt in die Region hinaus zu strahlen. Schloss Bröllin liegt im Zentrum der Projektregion.

Der Landkreis erhofft sich, dass die freiwillige Aufgabe Kultur, die bei ehrenamtlichen Bürgermeister*innen oftmals hinten runterfällt, durch ein Kulturlandbüro mitbespielt wird. In den Interviews und Protokollen aus der Anfangsphase fand sich häufig der Wunsch, eine*n Ansprechpartner*in, eine Netzwerkstelle, einen Ankerpunkt für Kultur zu haben. Die Stärkung der dritten Orte und die Einbindung und Aktivierung der Jugend waren ebenso wichtige Themen wie der Wunsch, dem Vereinssterben entgegenzuwirken. Es gab also eine ganze Reihe von Aufgaben für einen „Kümmerer“ im Sinne eines Kulturbegriffs, der bei der Arbeit der Jugendfeuerwehr ansetzt und nicht nur die professionellen Kulturschaffenden im Blick hat.

Unsere Besonderheit unter den bundesweiten TRAFO-Projekten ist, dass wir nicht in der Trägerschaft des Landkreises arbeiten, sondern in der eines freien Kunstproduzenten – allerdings in enger Kooperation mit dem Landkreis.

Die zweite Besonderheit ist, dass wir als fünfköpfiges Team beim Träger angesiedelt sind, eine sechste Mitarbeiterin aber beim Landkreis beschäftigt ist. Wenn wir mit Künstler*innen sprechen, dann können wir als freier Träger auftreten. Reden wir mit Bürgermeister*innen oder mit der Verwaltung, finden wir über unsere Kollegin aus dem Landkreis besser Gehör.

Initiiert das Kulturlandbüro als Netzwerkstelle im Vergleich zu anderen Gemeinden auch eigene Projekte?

Als Kulturlandbüro führen wir zwei partizipative Kulturformate durch – die „Dorfresidenzen“ und die „Kulturlandschau“ – und binden sie in unsere gesamte Netzwerkarbeit ein. Aus unserer Sicht ist es nicht zielführend, als Netzwerkstelle in dieser ländlichen Region darauf zu warten, dass jemand mit seinen Fragen vorbeikommt. Die aufsuchende Kulturarbeit ist hier zentral. Ein Beispiel: Ein Ort wendet sich an eine Netzwerkstelle, um sich über Fördermittel für die Anschaffung von zehn Biergartengarnituren zu informieren. Später stellt sich heraus, dass der Bauhof genügend Biergarnituren hätte zur Verfügung stellen können. Wir machen es anders: Wir laden zu einer Veranstaltung ein und in dem Zuge werden Allianzen gebildet. Wir befähigen die Menschen durch Aktivitäten, sich in ihrem eigenen Ort gut auszukennen und um seine Potenziale zu wissen: Wen und was gibt es und wie kann man voneinander profitieren? Im Prinzip macht Netzwerkarbeit und Beratungstätigkeit für uns nur Sinn, wenn wir irgendwann einmal etwas mit den Leuten zusammen gemacht haben. Anschließend können sie besser Fragen stellen und wir ihnen besser helfen.

Wer soll mit den Projekten angesprochen werden?

Unsere Zielgruppe ist die gesamte Einwohnerschaft und wir freuen uns über alle, die erreichbar sind und die sich ein kleines bisschen interessieren. Wenn da Kinder und Jugendliche dabei sind, freuen wir uns besonders. Aber das ist meistens schwer: Entweder sind sie durch die Schulstandorte abwesend oder schon auf dem Sprung ins Studium oder in die Ausbildung und gehen weg. Auch mit den Schulen zusammenzuarbeiten ist nicht einfach. Aber es gibt wenige Ausnahmen von jungen Menschen, die wieder zurückgekommen oder geblieben sind und hier wirklich was auf die Beine stellen wollen, mit denen wir sehr eng zusammenarbeiten. Das sind für uns ganz wichtige Personen, weil sie einen ganz anderen Blick in die Region bringen. Es fehlt durch die Wende eine ganze Generation an vielen Stellen. Aber das bewegt sich alles wieder. Es gibt eben auch die Zugezogenen. Die sind oft sehr aktiv, denn die meisten kommen ja deswegen her, weil sie es hier gut finden und sich einbringen möchten.

Dient Kultur der Regionalentwicklung? Welchen Beitrag leistet das Kulturlandbüro?

Wir verstärken das, was da ist. Wir wirbeln ganz viel auf in den Strukturen des Zusammenlebens nach dem Motto „Gemeinschaft stärken durch Kultur“. Die Leute kommen durch unsere Aktionen an einen Tisch, streiten sich auch, teilweise sogar heftig. Aber es wird einfach mal wieder ein bisschen über das Ganze geredet.

Regionalentwicklung beginnt ganz unten. Bevor sich Wirtschaftsunternehmen ansiedeln und Tourist*innen kommen, müssen die Menschen vor Ort erst einmal wissen, was sie haben und schätzen lernen, dass es für alle spannend sein kann.

Wir legen sehr großen Wert darauf, dass die Projekte nicht singulär sind. Mit unseren Maßnahmen aktivieren wir Menschen, die noch nie irgendwas in der Gemeinde gemacht haben. Oder wir bringen sie dazu, wieder miteinander zu arbeiten, nachdem sie das zehn oder zwanzig Jahre lang nicht getan haben. Deshalb spüren wir auf, was nach dem Weggang des Künstlers oder der Künstlerin im Ort aus eigener Kraft aber natürlich auch mit unserer Begleitung umgesetzt werden kann. Daraus entstehen sehr diverse Aktivitäten, wie die Gründung eines Ortsvereins, eine Erzählcafé-Reihe oder ein ehrenamtlich geführter Treffpunkt im Anschluss an unsere Dorfresidenzen.

Kunst ist dabei der Katalysator für die Gemeinschaft und ein Mittel der Regionalentwicklung. Wir befinden uns in einer Region, die im Zuge der Wende stark in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der Bruch in den Biografien der Menschen und das Gefühl, ihre Lebensleistung sei, wie sie sagen, „mit den Füßen getreten worden“, ist etwas, das den Menschen noch tief in den Knochen steckt. Die Kulturschaffenden haben dies mit ihren Projekten zutage gefördert. Wir erleben, dass es funktioniert, die Defizit-Erzählungen durch Kunst und Kultur ein Stück weit aufzubrechen. Durch ihr Tun vergessen die Menschen sie ein Stück weit und widerlegen sie, indem sie praktisch zeigen, was in ihrem Ort alles möglich ist.